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Verantwortete Elternschaft und Familienplanung als Herausforderung für die Pastoral

1. Objektive Moral und ethisches Lernen

Kirchliche Normen und ethische Weisungen im Blick auf die Gestaltung von Sexualität und den verantwortlichen Umgang mit der Fortpflanzungsdimension von Sexualität müssen , damit sie die persönlichen Motive und Handlungen der Menschen erreichen, im Bereich von Pastoral und seelsorglicher Begleitung operationalisiert werden in ethische Lernschritte und in Handlungsorientierungen die der konkreten Situation der Menschen und ihrem jeweiligen aktuellen "ethischen Können" entsprechen.
Moralpädagogik muss einen Bezug herstellen zu den ethischen Grundüberzeugungen der konkreten (erwachsenen) Menschen; sie muss als Begleitung und Förderung ethischer Lernprozesse die Ausbildung der sittlichen Persönlichkeit ins Zentrum rücken. In der Begleitung von Wachstums- und Suchprozessen bei der Gestaltung von humaner Sexualität als Suche der eigenen Gestalt der Liebe wird die (objektive) ethische Ordnung in Beziehung gesetzt zu den Wünschen, Sehnsüchten, Hoffnungen und Ambivalenzen des konkreten Menschen mit seinen Ressourcen, seinen Erfah­rungen und seinen aktuellen Möglichkeiten.

Nur wenn Begleitung bereit ist, sich auf die konkrete Situation und Möglichkeit des einzelnen, so wie er jetzt ist, einzulassen, kann Erweiterung der Möglichkeiten dieses einzelnen, kann Wachstum seiner Frei­heit und seiner sexuellen Selbstbestimmung geschehen. Sexuelle Selbstbestimmung wächst nicht durch Emanzipation von ethischen (objektiven) Werten, sondern in persönlicher Aneignung ethischer Normen, sie ist (ihrem Wesen nach) Freiheit zum Guten als Bedingung der Möglichkeit einer persönlichen Sprache sexueller Liebe und personaler sexueller Begegnung.

2. Begleitung auf dem Weg zu einer persönlichen Kultur der Sexualität als Sprache der Liebe

Das Erlernen eines verantwortlichen Umgangs mit Fruchtbarkeit (verantwortete Elternschaft) muss integriert sein in eine Förderung der Entwicklung einer persönlichen und individuellen Kultur der Sexualität.

Schon im biologischen(vormenschlichen) Bereich gibt es nicht die Natur als statisches Phänomen; in der Evolution von Sexualität hat sich der Zusammenhang von Fortpflanzung (Fruchtbarkeit) und Sexualität in verschiedene Formen ausdifferenziert. Der evolutiven Ausdifferenzierung des Sexuellen im biologischen Bereich entspricht eine kulturelle, physisch-psychische Ausdifferenzierung beim Menschen in Form von kollektivem Wissen, von kollektiven unbewussten "Bildern" und Phantasien, von persönlichem Wissen aus eigenen Lernerfahrungen und familiären und gesellschaftlich-kulturellen "Vermächtnissen".

Die Natur des Menschen ist seine Kultur. Das Auftreten des Menschen fällt zusammen mit der Entstehung von Kultur als zunehmend geistige, subjektive Bewältigung von Natur.

Dies gilt auch für die Sexualität als Teil der menschlichen Kultur, als Ausdruck der Subjekthaftigkeit des Menschen. Menschliche Sexualität ist die geschichtliche und persönliche Entwicklung einer Kultur von Erotik, Sexualität und Fruchtbarkeit, ist die jeweils subjektive Aneignung von Sexualität als einer zunehmend ausdifferenzierten, personalen Sprache der Liebe. Im Laufe der modernen Entwicklung von Liebe, Partnerschaft und Ehe bekommt Sexualität über die Dimension der Fortpflanzung hinaus eine immer größere Bedeutsamkeit für die persönliche Selbsterfahrung und Selbstentfaltung und für die Gestaltung und das Erleben von Partnerschaft und Ehe. Sexualität wird zur Sprache und zum Ausdruck des Subjekts (Selbsterfahrung) und zum Medium personaler Beziehung und Begegnung (Du-Erfahrung). Je mehr Sexualität im Kontext von personaler Liebe von Begegnung und Beziehung gesehen (vgl. auch die Aussagen des II. Vat. Konzils) und gestaltet wird, umso mehr wird Sexualität zu einer persönlichen und damit auch individuellen Wirklichkeit, zu einer persönlichen und individuellen Eigensprache des einzelnen, die geformt ist aus seiner Kultur, seiner Biografie und aus der Notwendigkeit des Dialogs mit der sexuellen Sprache des Partners/der Partnerin.

Sexualität lernen ist ein persönlicher Wachstums- und Entfaltungsprozess, ein graduelles Hineinwachsen in die volle Wahrheit des Sinns menschlicher Sexualität. Werte und Normen, kulturelle Bilder und Traditionen sind orientierende Hilfen bei diesem Wachstums und Individualisierungsprozess; sie können angesichts der Vielfalt "öffentlicher Stimmen und Bestimmungsversuche", angesichts der Gefahr der Entfremdung von der eigenen inneren Wahrheit und persönlichen Stimmigkeit (Gewissen) einen (Freiheits-)Raum öffnen für die eigene Sprache von Sexualität. Eine normative Orientierung "von außen" muss sich deshalb als Be­gleitung und Anstoß zu einem persönlichen Selbstwerdungsprozess verstehen , der in der Auseinandersetzung mit den ethischen Wer­ten diese Werte als eigene Wahrheit entdeckt und sich die objektiven Werte als eigene Werte zu eigen macht. Nur so kann sich menschliche Sexualität, die Sexualität des einzelnen Menschen zu einer persönlichen und selbstverantworteten individuellen Sprache der Liebe entfalten.

Bei der Förderung der Entfaltung einer Kultur der Sexualität als Lern-Weg mit Fortschritten und Rückschritten, mit "Versuch und Irrtum" muss der Begleiter bei dem Wertbewusstsein des einzelnen und des Paares ansetzen und deren ethische Ressourcen entfalten helfen. Dabei darf als Chance gesehen werden, daß ja auf der Ebene humaner Werte und Grundhaltungen die Übereinstimmung der Menschen untereinander(und dort auch mit der Kirche) größer ist, als wir gemeinhin annehmen.

3. Probleme der Vermittlung von objektiver Wertorientierung und subjektiver Situation

Im Kontext der Ausdifferenzierung und Privatisierung der kleinen Lebenswelt von Ehe und Familie zum Raum personaler Selbst­bestimmung wird Sexualität als Intimstes und Privatestes mehr und mehr zu dem Symbol für die Autonomie dieses Lebensbereichs (angesichts aller Fremdbestimmung "von draußen") Deshalb reagieren nichtkirchliche und kirchliche Paare so empfindlich auf (normative) Einsprüche von außen, die diesen Bereich regulieren wollen. Die Heftigkeit der kritischen Reaktionen auf solche Einsprüche kommt nicht aus einer generellen "Moralfeindlichkeit" der Menschen, sondern entspringt ihrem Bedürfnis , ihre kleine Lebenswelt, die "institutionalisierte Privatsphäre" (F.X. Kaufmann), zu schützen. Diese Situation fordert Pastoral und seelsorgliche Begleitung heraus, so in den Dialog mit den Menschen einzutreten, daß der Zuwachs an Freiheit und (sittlicher) Auto-nomie sichtbar und erfahrbar wird, den die Auseinandersetzung mit den ethischen Traditionen kirchlich-christlichen Lebenswissens erbringt.

Im Blick auf den konkreten Umgang von Paaren mit Sexualität und Fruchtbarkeit muss der Tatsache Rechnung getragen werden, daß in kaum einem anderen Bereich ethischen Handelns eine solche Diskrepanz zwischen der kirchlich normativen Bestimmung und Verkündigung und den Einstellungen und der Praxis auch kirchlich gebundener Menschen besteht wie in diesen Fragen.

Dabei hilft die theologische Figur des "irrigen Gewissens" zur Einordnung des "abweichenden Verhaltens" alleine nicht mehr, um diese Diskrepanz auszuhalten, weil sehr, sehr viele Paare für sich in Anspruch nehmen, daß sie nicht nach "Lust und Laune", sondern guten Gewissens und guten Glaubens handeln. Die Spannung ist weder durch offensive, autoritative Ein-Schärfungen aufzulösen, noch kann man ihr durch (resignierten) Rückzug aus der Begleitung junger Menschen und Paare bei der Gestaltung von Sexualität ausweichen.

Menschen brauchen gerade angesichts der Individualisierung und Privatisierung von Liebe und Sexualität den Dialog mit dem Lebenswissen christlicher Ethik und der lebenspraktischen Erfahrung von Christen, die ihr Leben auch in diesen Fragen aus der Inspiration des Evangeliums heraus gestalten.

Was die Frage des inneren Zusammenhangs von Sexualität und Fruchtbarkeit, der Bedeutung der Generativität als einer Möglichkeit menschlicher Entfaltung (im Mutter- bzw. Vater-Sein) betrifft, so haben gerade in neuerer Zeit Psychologen und Kulturwissenschaftler die Fruchtbarkeit als eine wesentliche Dimension von Sexualität wieder herausgestellt; d.h. im öffentlichen Diskurs über Liebe und Sexualität sind solche Fragen jenseits moralisch-bewertender Zuschreibungen durchaus diskutierbar, findet sich eine Basis für ein (orientierendes) Gespräch über solche Fragen.

Interessant ist dabei ja auch, daß der Anteil der Menschen, die Methoden der natürlichen Familienplanung anwenden, unter nichtkirchlichen Menschen alternativer Milieus (zumindest im Bereich der alten Bundesrepublik) höher liegt, als unter Katholiken.

Daraus läßt sich schließen, daß das Thema Empfängnisregelung, Sexualität und Fruchtbarkeit in der Kirche auch dadurch belastet ist, daß gerade dieses Thema innerkirchlich und gesellschaftlich zum "Stellvertreter" für die Frage der Freiheits- und Autonomieansprüche des modernen Subjekts in der Auseinandersetzung mit der als einengend erlebten kirchlichen Autorität geworden ist (Autoritätsthema).

Die sachliche Bedeutung natürlicher Methoden der Empfängnisregelung, der Wert ihrer Art des Umgangs mit Fruchtbarkeit und Sexualität, wird - bei richtiger Information - durchaus gesehen, ist zumindest für viele Paare diskutabel; abgelehnt wird deren moralisch-ethische Sonderstellung, durch die manche Paare sich in letzter Konsequenz als "Missbraucher" von (ehelicher) Sexualität abstempelt sehen - ein leidvolles Thema vorkonziliarer Moral und Ehe(-beicht-)pastoral.

Ein weitere Schwierigkeit für heutige Menschen, die kirchliche Ablehnung "künstlicher" Methoden der Empfängnisregelung überhaupt noch zu verstehen, liegt in der heute vorherrschenden Subjektorientierung von Handlungen und Einstellungen, die bei der ethischen Bewertung von Handlungen eher auf die Motive und Intentionen der Subjekte schaut als auf die "objektive Struktur des Aktes". Paare können deshalb kaum verstehen, wieso bei gleicher Intention (Empfängnis zu verhüten, um verantwortlich mit Elternschaft umzugehen) und bei gleicher Motivation (Liebe zu schenken und personale Begegnung zu suchen) die Wahl der empfängnisfreien Zeit moralisch unbedenklich, die Wahl künstlicher Mittel sittlich schlecht sein soll.

Eine Begleitung von Paaren darf deshalb nicht von einer objektiven Aktmoral ausgehen, sondern muss sich zunächst auf die "guten" Intentionen und Motive der Paare beziehen und diese als sittlich bedeutsam würdigen.

4. Positive Ansätze

Begleitung zu verantworteter Elternschaft und zum humanen Umgang mit Fruchtbarkeit darf sich nicht einengen lassen auf die Frage der Methoden der Empfängnisregelung; sie steht im Kontext der Frage nach einer Kultur der Sexualität.

Zur Kultur der Sexualität gehört eine Kultur der Leiblichkeit: Bejahung der Leiblichkeit, Annahme seines Körpers, sensibel werden für die Sprache des Leibes, Gespür entwickeln für die Würde, Integrität und Schönheit seines Körpers und des Körpers des Partners/der Partnerin als Medium von Liebe, Freude, lustvoller Begegnung.

Zum Gespür für den Körper und "was ihn bewegt" gehört auch die Wahrnehmung der eigenen Fruchtbarkeit als Ausdruck von zeugender Kraft und schöpferischer Potenz. Gerade weil immer noch viele junge Paare Kinder wollen und der Wunsch nach einem Kind heute für viele Paare das zentrale Motiv für eine Eheschließung ist, könnte eine Begleitung, die Fruchtbarkeit als schöpferische Kraft der Sexualität , als Ort der Lebensfreude und -bejahung erschließen will, dort ansetzen.

In der für Frauen bzw. Männer oft unterschiedlichen Wahrnehmung der Fruchtbarkeit und in deren Anerkennung als mögliches lustvolles Element sexuellen Erlebens läßt sich auch der "Sinn" der Fruchtbarkeit (von Liebe) erschließen: Liebe, die sich übersteigt auf ein "Drittes" hin, die neues Leben und Wachstum eröffnet (nicht nur biologisch); Liebe, die sich öffnet und damit Raum und Welt gewinnt, anstatt sich selbstgenügsam in die Zweisamkeit zurückzuziehen, in ein trautes, manchmal erstickendes Liebesparadies; Liebe, die gemeinsam etwas zeugt und damit Zukunft gewinnt, die nicht stehen bleibt im "Hier und Jetzt". Im Kontext einer positiven Wahrnehmung von Leiblichkeit und Fruchtbarkeit wird es auch möglich, verständlich zu machen, daß der konkrete Umgang mit der leiblich-sexuellen Fruchtbarkeit, d.h. die Wahl einer Methode der Empfängnisregelung, nicht nur eine rein technische Frage, sondern eine ethische Frage ist, eine Frage des sorgsamen Umgangs mit seiner Leiblichkeit, mit seiner Sexualität, mit seiner Liebe - mit der Würde seines Partners/seiner Partnerin. Umgekehrt können sich über die Wahl der Methode noch einmal neue Lernerfahrungen für die Gestaltung der Sexualität ergeben:

Im Rahmen einer gesellschaftlichen, vor allem von Frauen angestoßenen Diskussion über die Einengung von Sexualität und sexuellem Erleben durch eine Fixierung auf Koitus und Orgasmus und über die Suche nach einer umfassenderen Gestalt von Erotik und Sexualität, in der auch andere Formen erotischen Spiels und sexueller Nähe ihren Eigenwert als Ausdruck von Liebe erhalten, werden (auch) Erfahrungen von Paaren bedeutsam, welche die Methode der sog. Natürlichen Familienplanung praktizieren. Weil sie in der "fruchtbaren" Phase des Zyklus der Frau zwar auf den Koitus verzichten (müssen), aber dennoch erotisch-sexuelle Begegnung und Intimität suchen, haben nicht wenige von ihnen gelernt, den Spielraum ihrer Sexualität und ihrer intimen Begegnung zu erweitern und neue "Sprach"-Formen der Liebe zu finden. An ihren Erfahrungen wird aber auch deutlich, daß eine solche Veränderung des sexuellen Dialogs nicht ohne Mühsal und Konflikte geschieht, daß zu einem solchen Weg Erfahrungen von Frustration, Anpassung an die Realität und "Rückfall" in alte Muster gehören.

Die Gestaltung von Sexualität, der humane Umgang mit der fruchtbaren Liebe ist ein Weg. Entfaltete Sexualität als personale Sprache der Liebe ist das Ziel dieses Weges. Menschen sind begrenzt in ihrem Wollen und Können. Pastoral und seelsorgliche Begleitung tun darum gut daran, Menschen nicht vom Ziel her zu bewerten, sondern sie auf dem Weg zu begleiten, die eigene (begrenzte) Wahrheit und Gestalt ihrer Liebe zu finden, die sie im Blick auf das Ziel für sich entdecken.


07.11.1995&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp; &xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;Hans-Jakob Weinz

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