Dr. Elisabeth Mackscheidt

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Ergebnisoffen und zielorientiert

Überlegungen zur Pflichtberatung

Von Elisabeth Mackscheidt

Daß das Ergebnis eines kommunikativen Prozesses zwischen zwei Menschen nicht im voraus auszumachen ist, könnte man als Faktum für so selbstverständlich halten, daß es kaum der Er­wähnung bedarf. Was der Zweite Senat des Bundesverfassungs­gerichts in seinen Ausführungen zum Inhalt der Schwanger­schaftskonfliktberatung mit dem Wort "ergebnisoffen" (D. IV. 1.) bezeichnet, bezieht sich aber nicht nur auf das Ende des Bera­tungsprozesses, sondern zielt auf den Prozeß selbst. Die Ergeb­nisoffenheit darf und soll den Charakter des Beratungsprozesses selbst bestimmen. Damit weist der Senat auf ein unverzichtbares Moment von Beratung überhaupt hin; denn es gehört zum Selbstverständnis von Beratung, daß sie die personale Freiheit der Ratsuchenden respektiert, selber Verantwortung zu übernehmen - eigene Ent­scheidungen fällen zu können und zu müssen. Hiermit ist nicht nur die Grundeinstellung gemeint, die überhaupt erst den Boden für ein mögliches "Arbeitsbündnis" zwischen der Beraterin (Anm. 1) und der schwangeren Frau abgibt; es handelt sich vielmehr um eine Leitlinie, die in jedem Augenblick des Beratungsprozesses diesen steuert. Eine Beratung, die diesen Namen verdient, wird die schwangere Frau immer als Subjekt des Beratungsprozesses anse­hen und sie nicht "zum bloßen Objekt eines Schutzkonzepts" herabwürdigen, um eine Formulierung aufzugreifen, die der Se­nat in einem anderen Zusammenhang gebraucht (D. III. 4.). Bera­tung hat mit Begleitung zu tun, mit Hilfe zur Selbsthilfe, mit Förderung jenes Freiheitsraumes, der ein Höchstmaß an persön­lich verantworteter Entscheidung möglich macht. Sie ist etwas anderes als Belehrung, und am weitesten entfernt ist sie von jeg­lichem Moment der Kontrolle.
So kann die Mitwirkung an einem Beratungsgespräch in der Tat nie erzwungen werden. Obwohl jeder weiß, daß ein Schwangerschaftskonflikt eine höchst individuelle Realität ist, so daß schon eine angemessene Information, geschweige denn eine Konfliktberatung im engeren Sinne schwerlich möglich ist, ohne daß die schwangere Frau darlegt, was sie veranlaßt, den Abbruch der Schwangerschaft zu erwägen, kann die Aufforderung zu die­ser Darlegung letztlich nur Appellcharakter haben. Die schwangere Frau wird als verantwortlich Handelnde angesprochen; ihre Mitwirkung wird deshalb erwartet - und wird deshalb nicht er­zwungen (D. IV. 1. und 1.b)).

Hier ergibt sich eine der schwierigsten Fragen, die Beraterin­nen in diesen Wochen stellen: Was tun, wenn die schwangere Frau schweigt? Oder noch drängender formuliert: Darf die Bera­terin bescheinigen, daß eine Beratung stattgefunden hat, wenn die schwangere Frau geschwiegen hat? Mit "Schweigen" meine ich hier nicht unbedingt ein regelrechtes Verstummen, wohl aber ein Schweigen über die Gründe, die die schwangere Frau be­wegen, den Abbruch der Schwangerschaft als einzigen Ausweg zu sehen. Wenn ich mich im folgenden ausführlicher auf diese Frage einlasse, so keineswegs, weil die Erfahrung etwa lehrte, daß bei der Pflichtberatung häufig gar kein Gespräch zustande kommt, weil schwangere Frauen das Gesprächsangebot - aus welchen Gründen auch immer - nicht annehmen. Angesichts einer ungewollten Schwangerschaft in einem geschützten Raum mit einer Frau sprechen zu können, bei der man fest darauf ver­trauen kann, daß sie einem Respekt und Verständnis entgegen­bringen wird, ist ein eminent humaner Vorgang, der schnell eine Selbstverständlichkeit menschlicher Begegnung gewinnen kann, die den obligatorischen Rahmen in den Hintergrund treten läßt. Wie anders könnten Beraterinnen diesen Beruf über viele Jahre ausüben und darin eine befriedigende und sinnvolle Tätigkeit se­hen. An der Frage des Schweigens möchte ich vielmehr den Grenzfall durchspielen, für den eine Antwort gesucht werden muß, wenn die Freiheitlichkeit des Beratungsprozesses mit vol­ler Ernsthaftigkeit gewahrt bleiben soll.

Bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, sollte man sich allerdings zunächst vor Augen halten, daß zumindest Phasen des Schweigens in Beratungssituationen - insbesondere, wenn es sich um Beratung angesichts eines inneren Konfliktes handelt -  nichts Ungewöhnliches sind. Ein respektvoller und sensibler Umgang mit dem Schweigen gehört zu den wesentlichen Merk­malen beraterischer Kompetenz. Es gibt viele Formen des Schweigens - auch eines "beredten Schweigens" -, und es gibt viele Formen der verbalen und nonverbalen Antwort auf ein Schweigen.

Es gibt das Schweigen aus der Not, nicht sprechen zu können - vielleicht weil man in seinem Leben zu wenig vertrauenspen­dende Erfahrungen gemacht hat, um jetzt Vertrauen in die Bera­terin zu setzen; vielleicht weil man das Thema als zu schuld- und schambesetzt erlebt, um darüber zu sprechen; vielleicht weil einen zu viele Gedanken und Gefühle gleichzeitig bedrän­gen, um sie in diesem Augenblick in Worte zu fassen; vielleicht weil man fürchtet, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren, wenn man einmal anfinge zu reden. All dies ist - insbesondere aus therapeutischen Gesprächssituationen - bekannt und kann auch den Verlauf einer Schwangerschaftskonfliktberatung be­stimmen. Nun ist Schwangerschaft kein therapiebedürftiger Zu­stand; und doch kann eine ungewollte Schwangerschaft so viele tragende Momente der eigenen Identität gleichzeitig ins Wan­ken bringen, daß es nicht als Pathologisierung angesehen werden muß, wenn man davon ausgeht, daß ein Schwangerschaftskonflikt eine tiefe Identitätskrise auslösen kann. Aber auch ange­sichts der Möglichkeit einer solchen Krise und trotz aller Tendenz zu regressivem Erleben in der Schwangerschaft wird dieses Nicht-reden-Können die Ausnahme bleiben. Dennoch: Es muß als möglicher Fall geschützt bleiben; denn wenn es auch ge­rade in dieser Situation der schwangeren Frau selbst eine große Entlastung bringen könnte, sollte der Beraterin es gelingen, eine Brücke zum Reden abzugeben, so wird dieses Angebot - und vielleicht auch das eines Gesprächs mit einer psychologischen Fachkraft - nicht immer ergriffen werden, so daß die Möglich­keiten einer Konfliktberatung, die ja immer unter einer zeitli­chen Begrenzung steht, sehr eingeschränkt sein können.

Eher schon wird eine Beraterin konfrontiert mit dem Schwei­gen des Nicht-reden-Wollens; und auch dem gilt es respektvoll zu begegnen. Beratung kann nicht gelingen, wenn sie nicht von einem Vertrauensvorschuß getragen ist, d.h., die Achtung vor der Würde der schwangeren Frau und das Wissen um die, wie ich meine, einzige Chance, die Beratung in einer solchen Situa­tion für den Lebensschutz hat, erfordern es, daß die Beraterin da­von ausgeht, daß diese Frau ihre Gründe dafür hat, nicht reden zu wollen. So kann es sein, daß die schwangere Frau den Ein­druck hat, bei einem Offenlegen des Konfliktes die Loyalität zu Menschen, die ihr nahestehen, nicht wahren zu können, da sie sich dann möglicherweise doch noch zur Revision ihrer bisheri­gen Entscheidung veranlaßt sehen könnte. Ein Schwangerschaftskonflikt kommt ja oft gerade erst dadurch zustande, daß die Frau einerseits eine Loyalität zu dem in ihr wachsenden Kind einzugehen beginnt, andererseits aber mit der Entscheidung für dieses Kind Loyalitäten, die sie schon eingegangen ist, zu verlet­zen fürchtet: die Loyalität zu ihrem Partner, von dem sie viel­leicht annimmt, daß väterliche Verantwortung zu übernehmen, ihn überfordert; die Loyalität zu ihren Eltern, denen sie ersparen möchte, daß ihre Tochter unter den gegebenen Umständen ein Kind bekommt; die Loyalität zu ihren schon geborenen Kindern, die möglicherweise ihre ganze Kraft beanspruchen. Häufig wird die Loyalität dem ungeborenen Kind selbst gegenüber schon als konflikthaft erlebt, wenn nämlich die schwangere Frau zutiefst überzeugt ist, ihrem Kind keine guten Lebensbedingungen schaf­fen zu können, ja vielleicht auch, ihm keine gute Mutter sein zu können. All diese bewußten und unbewußten Loyalitätsbindun­gen können eine schwangere Frau zu der Einschätzung bringen, es sei besser, sich jetzt nicht einer Beratung zu öffnen, sondern den eigenen Entschluß, die Menschen, die sie liebt, zu schonen, nun auch bis zum bitteren Ende alleine durchzutragen. Immer­hin birgt in diesen Fällen der obligatorische Charakter der Bera­tung eine gute Chance für den Schutz von Mutter und Kind - bei einem freien Angebot wäre diese Frau ja im Zweifelsfall gar nicht in eine Beratungsstelle gegangen -; denn vielleicht gelingt es der Beraterin, gerade indem sie gute Gründe für die Zurück­haltung der schwangeren Frau voraussetzt und zuschreibt, einen Raum anzubieten, in dem nun doch etwas von dem Loyalitäts­konflikt sichtbar wird, so daß die schwangere Frau die Erfahrung machen kann, daß die Beraterin ihren Wunsch, sich schützend vor andere Menschen zu stellen, versteht und hochachtet; daß sie gewissermaßen das Ja zum Leben, das hinter dem Nein ver­borgen ist, ernst nimmt. Vielleicht kann der schwangeren Frau aus dieser Erfahrung, in ihrer spezifischen Fähigkeit der Sorge für andere gesehen und angenommen zu sein, die Kraft erwach­sen, auch dem ungeborenen Leben in ihr Schutz zu geben. Auch kann gerade in solchen Situationen das Gespräch mit Angehöri­gen, wenn es denn dazu kommen sollte, eine große Hilfe sein, weil oft erst dabei der Loyalitätskonflikt gemeinsam verstanden und überwunden wird. Und natürlich gibt es auch immer wieder - wenn auch leider in zu geringem Maße - praktische Hilfen, die den Konflikt abschwächen können; daß die Ratsuchenden "so effektiv wie möglich" (D. IV. l.c)) bei der Inanspruchnahme staatlicher Leistungen und anderer Hilfen unterstützt werden sollen, gehört sicherlich zu den wichtigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Es kann aber auch sein, daß die schwangere Frau ihre Zurückhaltung aufrechterhält und trotz qualifizierten Bemühens der Beraterin ihren einsamen Weg zu Ende geht.

Eine Loyalitätsverletzung mag eine schwangere Frau auch dann bei einer Darlegung ihrer Gründe fürchten, wenn die Offenlegung ihres Konfliktes deutlich machen würde, daß andere sie zur Abtreibung drängen. Oft sind es ja gerade Menschen, die der schwangeren Frau besonders nahe stehen - wie der Partner oder die eigenen Eltern -, so daß der Gedanke, diese durch ihre Äußerungen in ein schlechtes Licht zu stellen, trotz aller Enttäu­schung höchst ambivalente Gefühle auslösen kann. Die Äch­tung der Nötigung zum Schwangerschaftsabbruch, die im Prinzip sicherlich auf einen gesellschaftlichen Konsens rechnen kann, deren strafrechtliche Ausformung allerdings ein sehr schwieriges Thema ist, wird durch die Aufforderung des Bundes­verfassungsgerichts, das Strafrecht in dieser Hinsicht auszubauen (D. VI. 2.b)), ja vermutlich noch deutlicher werden.
So wird man auch nicht ausschließen können, daß eine Frau aus Angst, Dritte zu belasten, oder aus Angst vor weiteren Repressalien schweigt. Der Vertrauensschutz der Beratung macht es erforderlich, daß nicht nur den Beraterinnen, sondern auch der Bevölkerung klar ist, daß eine Beraterin, die von einer sol­chen Nötigung erfährt, nur den Auftrag hat, die Frau über den rechtlichen Schutz, den der Staat ihr und ihrem Kind gewährt, aufzuklären und sie in Ausnahmefällen vielleicht auch zu recht­lichen Schritten zu ermutigen. Es muß klar sein, daß die Beraterin keine eigenen rechtlichen Schritte tun muß, ja, daß sie dazu nicht befugt ist. Wenn nicht jeder in unserem Staat die völlige Sicherheit haben kann, daß die schwierigen Themen des inneren und äußeren Drucks - wie alle Inhalte des Gesprächs mit der schwangeren Frau oder auch mit hinzugezogenen Personen - strengster Schweigepflicht unterworfen sind, ist die Mindestan­forderung an Beratung nicht erfüllt und das Schutzkonzept über eine Beratungsregelung in seinem Kern korrumpiert. Nicht um­sonst wird der schwangeren Frau ja sogar eine anonyme Bera­tung eingeräumt (D. IV. 1.).

Es wäre aber eine Verkennung der Realität, würde man die Motive dafür, nicht über die Gründe für den beabsichtigten Schwangerschaftsabbruch reden zu wollen, nur in einem inne­ren oder äußeren Druck suchen, der in Zusammenhang mit dem Schwangerschaftskonflikt selbst steht. Zum einen wird man da­mit rechnen müssen, daß der obligatorische Charakter der Bera­tung u.U. als eine Barriere für ein offenes Beratungsgespräch erlebt wird, die in Ausnahmefällen auch unüberwindlich sein kann. Dies sollten auch diejenigen zugeben, die sich schon im Vorfeld der Gesetzgebung für die Beibehaltung bzw. Einführung der Pflichtberatung ausgesprochen haben; für den obligatori­schen Charakter der Beratung sprechen ja nicht nur ethisch-rechtliche Überlegungen, sondern vor allem auch die großen Chancen für den Schutz von Kind und Mutter, die eine Pflicht­beratung mit sich bringt - nicht zuletzt im Blick auf die in unse­rer Gesellschaft benachteiligten Familien.
Zum anderen ist die Pflichtberatung nicht der einzige Weg, auf dem eine schwangere Frau versuchen kann, die Not- und Konfliktlage, die sie den Abbruch ihrer Schwangerschaft erwä­gen läßt, zu überwinden. Vielleicht hat die schwangere Frau längst eigene und fremde Ressourcen mobilisiert und sieht sub­jektiv für sich dennoch keine Möglichkeit, die Verantwortung für die Geburt dieses Kindes zu übernehmen. Vielleicht hat sie ausreichende Kenntnisse über die zur Verfügung stehenden äu­ßeren Hilfen und hat sich sogar von einem vertrauenswürdigen, kompetenten Menschen beraten lassen. So kann es sein, daß sie in diesem Augenblick dem Beratungsangebot keinen Sinn zu entnehmen vermag und vielleicht nur noch den Eindruck hat, zu etwas für sie persönlich nicht Stimmigem gezwungen zu werden. Niemand wird der Beraterin ein fertiges Rezept an die Hand geben können, aus dem hervorginge, wie sie in dieser Situation - und dies gilt letztlich für alle Beratungssituationen - am besten dem Lebensschutz dient. Beratung ist ein je individueller Vor­gang, eine höchstpersönliche Begegnung, die ihr Profil von den Möglichkeiten und Grenzen dieser beiden Frauen gewinnt, aus ihrer je unterschiedlichen Rolle heraus genau zu diesem Zeit­punkt in eine gute Kommunikation miteinander zu treten. Wahrscheinlich wird es möglich sein, die Einschätzung, die die schwangere Frau von der Beratungssituation hat, ins Wort zu bringen und zum Ausgangspunkt eines Gesprächs zu machen. Daß dieses Gespräch von dem Vertrauensvorschuß getragen ist, den die Beraterin der Frau entgegenbringt, indem sie die Ernst­haftigkeit, mit der die schwangere Frau ihre Not- und Konflikt­lage zu überwinden versucht hat, nicht in Frage stellt, erscheint mir der Weg, der am ehesten dem existentiellen Problem, ob diese Frau ihrem Kind das Leben erhalten wird, angemessen ist. Ich persönlich sehe darin keinen Widerspruch zu der Aufforde­rung des Bundesverfassungsgerichts, daß "die Beratung darauf hinwirken soll, daß die Frau ihre Abbruchgründe mitteilt" (D. IV. 1 .b)); denn wie anders könnte eine Frau in der beschriebenen Situation überhaupt motiviert werden, noch einmal über ihre Gründe zu sprechen, wenn nicht durch die Erfahrung, in Kon­takt mit einer Beraterin gekommen zu sein, die die Ernsthaftig­keit ihres lebensschützenden Bemühens respektiert und in Bescheidenheit das Angebot macht, sich selbst in den Dienst die­ses Bemühens zu stellen. Würde die Beraterin als Autoritätsper­son auftreten, die davon ausgeht, besser als die schwangere Frau selbst zu wissen, was diese zur Überwindung ihrer Not- und Konfliktlage braucht, so wäre der Beratungsprozeß entgleist. Be­raterinnen sind nicht Fachleute für den Lebensweg anderer Men­schen, sondern sie haben gelernt, die Kompetenzen, die die Ratsuchenden selber mitbringen, noch zu vergrößern und deren Verantwortungsbewußtsein noch zu stärken.

Daß wir Menschen in außergewöhnlichen Konfliktlagen - und der Schwangerschaftskonflikt ist eine solche - oft auch auf Information, Rat und Hilfe von außen angewiesen sind, macht Beratung zu einem adäquaten Mittel des Lebensschutzes. Doch im Blick auf die letztgenannte Beratungssituation gilt es, sorgsam auf den Duktus des Urteils und seiner Begründung zu ach­ten:
Der Senat hat dem Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt, auf eine Indikationsfeststellung zu verzichten, weil es gute Gründe gibt, davon auszugehen, daß eine schwangere Frau sich unter diesen Bedingungen eher dem Beratungsgespräch und da­mit dem Versuch der Überwindung der Not- und Konfliktlage öffnet (D. II. und II. 5.a)). Diese Zurücknahme der Außenkon­trolle muß auch bei der Durchführung der Pflichtberatung ge­wahrt bleiben. Aus dem Urteil und seiner Begründung geht unmißverständlich hervor, daß die Beratung in keiner Weise einer Prüfung der Größe der Notlage dient, sondern dem Ver­such der Überwindung der Notlage. Die Offenheit der Beratung erfordert es aber auch, daß die schwangere Frau sich nicht einer Prüfung unterworfen sieht, ob sie in ausreichender Weise am Beratungsgespräch mitgewirkt hat. Nicht die Frage  "Hat  die schwangere Frau genug getan für die Überwindung ihrer Not- und Konfliktlage?" gibt das Kriterium für die Aushändigung des Beratungsnachweises ab, sondern die Frage der Beraterin an sich selbst: Habe ich in angemessener Weise versucht, der schwange­ren Frau mit beraterischen Mitteln bei der Überwindung ihrer Not- und Konfliktlage zu helfen? Daß die Beraterin sich diese Frage stellt, fordert das Bundesverfassungsgericht allerdings mit allem Nachdruck, wenn es sagt, daß die Beratungsbescheinigung nicht ausgestellt werden darf, "solange der Beraterin oder dem Berater die Möglichkeiten einer Konfliktlösung ... nicht ausge­schöpft erscheinen" (E. n. 2.b)). Der Kontext, in dem diese For­mulierung steht, läßt keinen Zweifel darüber, daß es sich dabei um die Möglichkeiten der Beratung handelt. Dabei kann die Frage, welche Hilfestellungen angemessen sind, natürlich wie­derum nur das Ergebnis des kommunikativen Prozesses sein, den die schwangere Frau selbst maßgeblich mitgesteuert hat. Die Be­raterin hat auch die Möglichkeit, wenn die schwangere Frau den Beratungsnachweis beantragt, mit ihr zusammen - gewisserma­ßen aus der Metaebene - noch einmal auf den Beratungsprozeß zu schauen, damit die schwangere Frau selbst sich dazu äußern kann, ob ihr mit ihrem Kind in ausreichender Weise die zur Ver­fügung stehende Unterstützung bei der Überwindung ihrer Not- und Konfliktlage angeboten wurde und ob sie sich in allen für sie und ihr Kind wichtigen Bereichen gut informiert sieht. In bezug auf die schwangere Frau endet die staatliche Kontrolle beim Aufsuchen der Beratungsstelle und der persönlichen Begegnung mit der Beraterin. Beratung selbst hat immer den Charakter einer Einladung, eines Angebotes. Wenn der Staat den Rahmen für diesen freiheitlichen Prozeß nicht schützen würde, wäre dies gleichbedeutend mit seinem Verzicht auf Schwangerschaftskon­fliktberatung überhaupt und damit auch auf die lebenschüt­zende Wirkung von Beratung.

Man darf aber auch die Augen nicht davor verschließen, daß Frauen in die Beratung kommen, die eine andere anthropologi­sche Grundentscheidung zur Frage des Lebensrechtes des Unge­borenen gefällt haben, als sie dem Bundesverfassungsgerichtsur­teil zugrunde liegt - und dies gewiß nicht nur in den neuen Bundesländern. Natürlich muß das nicht unbedingt auf der Re­flexionsebene philosophischer Argumentation geschehen sein. Es kann angesichts heutiger Vorstellungen vom Gewicht elterli­cher Verantwortung z.B. die schlichte Überzeugung sein, es nicht dem Zufall einer mißglückten Empfängnisregelung über­lassen zu dürfen, ein Kind zur Welt zu bringen. Doch muß sich auch in solchem Fall erweisen, daß mit Beratung nicht Beleh­rung gemeint ist, worauf die Urteilsbegründung ja ausdrücklich hinweist: Beratung soll "Verständnis wecken, nicht belehren" (D. IV. 1.). Es geht also darum, Verständnis zu wecken für eine Wertordnung, die aufrechtzuerhalten wir uns über die Verfah­ren, die uns in unserer Demokratie zur Verfügung stehen, selber verpflichtet haben. Der lebenschützende Wert der Beratung kann dann m. E. nur in der Begegnung mit der Person der Berate­rin selbst und deren eigenen Werthaltungen liegen. Ich bin mit dem Senat der Auffassung, daß eine ergebnisoffene Beratung dies nicht ausschließt (D.IV.l). Die Qualität des Beratungspro­zesses hängt vielmehr auch davon ab, wie transparent der Berate­rin selbst ihre eigenen Werthaltungen sind und wie transparent und damit diskursfähig sie für die schwangere Frau sind. Ich habe keine Sorge, daß da, wo eine Beraterin die Wertordnung unserer Verfassung akzeptiert und verinnerlicht hat, Beratung zur Manipulation verkommen könnte; denn es gehört zu ebendieser Wertordnung, den ethischen Überzeugungen eines jeden Menschen mit Respekt zu begegnen. Wie innerhalb der Beratung einer schwangeren Frau diese grundsätzliche Thematik in angemessener Weise angesprochen werden kann, wird die Bera­terin im Einzelfall verantworten müssen. Sie kann sich dabei je­denfalls auch auf Ausführungen in der Urteilsbegründung beziehen, nach denen sie keine "auf die Erzeugung von Schuld­gefühlen zielende und in dieser Weise belehrende Einfluß­nahme" (D. IV. 1) ausüben soll. In der Öffentlichkeit ist viel von der Widersprüchlichkeit der Ausführungen des Bundesverfas­sungsgerichts die Rede. Dazu gehört auch die Spannung, die zwi­schen der gerade zitierten Aufforderung und z.B. jener Auffor­derung besteht, "Fehlvorstellungen" zu "korrigieren" (D.IV.1a)). Bei näherer Betrachtung wird man allerdings feststellen, daß diese Aufforderung sich auf Fehlvorstellungen darüber bezieht, welchen Schutz das Ungeborene auf der Grundlage unserer Rechtsordnung genießt. Eine Frau, die eine andere Wertordnung oder auch nur eine andere Auslegung der Wertordnung unseres Grundgesetzes vertritt, über unsere Rechtsordnung - wenn nö­tig - aufklären bedeutet, sie als verantwortliche Bürgerin unseres Staates ernst nehmen. Sollte die schwangere Frau die Wertent­scheidungen, die sich in unserer Rechtsordnung niederschlagen, innerlich nicht mittragen können, so kann man ihr nicht erspa­ren, diese Diskrepanz zumindest wahrzunehmen. Es wird von der Authentizität abhängen, mit der die Beraterin selbst diese Wertordnung vertritt, ob ihre Worte wie eine abstrakte Norm der politisch Mächtigen klingen oder ob darin die Sorge um die Aufrechterhaltung eines Menschenbildes durchscheint - die Sorge nämlich, daß wir eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen menschlichen Lebens überhaupt aufgeben würden, wenn wir nicht an der prinzipiellen Unverfügbarkeit menschli­chen Lebens in allen Phasen seiner Entwicklung festhielten.
In der konkreten Beratung ist die Situation im allgemeinen al­lerdings komplexer, als meine Versuche einer säuberlichen Dar­legung solcher Fälle suggerieren mögen. So kann z.B. eine engagierte politische Kritik durch die existentielle Erfahrung der Frau, tatsächlich ein Kind zu erwarten, ins Wanken geraten, so daß vielleicht auch hier "normative Orientierungen und Prägun­gen, die auch bei der Ratsuchenden vorhanden sind" (D. IV. 1.), durch die Begegnung mit der Beraterin angesprochen werden können. Umgekehrt kann das tiefe Gefühl, jetzt kein Kind verantworten zu können, eine Frau zu Deutungen greifen lassen, die sie in theoretischen Diskussionen nicht vertreten hätte. Wel­che Interventionen jeweils als hilfreich für den Schutz von Mut­ter und Kind erlebt werden können, wird immer der fachlichen Einschätzung der Beraterin überlassen bleiben. Der Staat will im Beratungskonzept seiner Schutzpflicht für das ungeborene Le­ben unter anderem und in gewisser Weise sogar vorrangig durch Beratung nachkommen. Was Beratung ist, kann letztlich nur die Beratungsprofession selbst sagen. Die immer wieder abwägenden Worte, mit denen der Senat die Aufgabe der Beratung beschreibt, lassen dafür m. E. auch Raum genug. Die Beraterin darf nach wie vor in die einzelne Begegnung mit dem Bewußtsein hineinge­hen, daß der Staat sie im Dienst des Lebensschutzes ausschließ­lich zum Einsatz beraterischer Mittel auffordert; und was dies im Einzelfall bedeutet, darf und muß sie aus ihrer beraterischen Kompetenz heraus entscheiden. So gehört es immer auch zur Kunst von Beratung, daß die Beraterin ein Gespür dafür entwickelt, in welcher Form sie ihre eigene Wahrnehmung und Wer­tung der Realität ins Spiel bringen darf und sollte: ob nämlich diese Begegnung dann dazu führt, daß die schwangere Frau mehr zu sich selbst kommt, eine Erweiterung ihrer Realitätswahrneh­mung erfährt - was entlastend sein kann, aber auch Schmerzli­ches nicht ausschließt -, ob sie also an Freiheit für eine verantwortete Entscheidung gewinnt oder ob sie anstelle von Be­ratung Fremdbestimmung und Bevormundung erfährt. Nur wenn die schwangere Frau erlebt, daß ihr in der Beratung Re­spekt vor ihrer persönlichen Verantwortung, Verstehen ihrer Konfliktlage und Schutz ihrer psychischen Stabilität gewährt werden, kann Beratung überhaupt dazu angetan sein, die Fähig­keit dieser Frau zu stärken, auch das in ihr wachsende Leben zu respektieren und zu schützen.

Der Beratungsauftrag erfordert es auch, daß die Beraterin sich bei ihren Interventionen ausschließlich von der Frage leiten läßt, was nach ihrer Einschätzung in diesem Moment dem Beratungs­prozeß am besten dient. Eine Regelung, nach der sie nach der Be­ratung ein Protokoll anfertigen muß (Urteil II. 3. (6)), darf sie nicht dazu verführen, sich von einem Erhebungsinteresse leiten zu lassen. Schon um dem vorzubeugen, hielte ich es für ange­zeigt, daß der Gesetzgeber die Frage nach der Zahl der Schwangerschaftsabbrüche nicht in die im Protokoll festzuhaltenden Daten aufnimmt. Das Bundesverfassungsgericht räumt dem Ge­setzgeber ja ausdrücklich Entscheidungsfreiheit darüber ein, "wie er die Erfassung und Auswertung der Daten im einzelnen regelt" (E. IV. l.c)). Es kann zwar durchaus sein, daß vorangegan­gene Abtreibungen in einem Beratungsgespräch Thema werden - häufiger allerdings bei schwangeren Frauen, die sich, manch­mal unter besonders schwierigen Bedingungen, für ihr Kind ent­scheiden -; doch im allgemeinen gehört diese Frage eher in den Kontext eines ärztlichen Gesprächs.

Voraussetzung für einen guten Beratungsprozeß ist schließ­lich noch, daß nicht nur die schwangere Frau der Beraterin Ver­trauen schenken kann, sondern daß auch die Beraterin der schwangeren Frau vertrauen kann. Sie muß sich mit einer gro­ßen Offenheit, in gewisser Weise ebenfalls ungeschützt, auf eine ihr fremde Person, deren Weg, zu denken und zu fühlen, deren Geschichte und deren Fragen und Konflikte einlassen; und sie muß während des ganzen Beratungsprozesses immer wieder - oft zudem schwierige – Ermessensentscheidungen treffen, wel­che Interventionen jetzt hilfreich sein könnten. Für all das braucht sie die völlige Sicherheit, daß der einzelne, individuelle Beratungsprozeß nie zur Basis für eine staatliche Kontrolle oder gar ein Verfahren gegen sie selbst bzw. ihre Beratungsstelle ge­macht werden kann. Wenn ich als Nichtjuristin das Urteil und seine Begründung richtig interpretiere, würde der Duktus der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts einen solchen Vorgang auch keinesfalls erlauben (vgl. auch D. IV. 3.e)). Die Überwachung der Beratungsarbeit, zu der das Bundesverfas­sungsgericht den Staat verständlicherweise verpflichtet (D. IV. 3.a) bis e)), muß und kann m. E. vom Gesetzgeber im Rahmen der Vorgaben des vorliegenden Urteils so geregelt werden, daß der Schutzraum für einen vertrauensvollen, freiheitlichen Beratungsprozeß voll gewahrt bleibt. Dies sollten nicht nur die Bera­terinnen selber wissen, sondern auch alle anderen Menschen in unserem Land; denn sonst kann Beratung als Weg des Schutzes für Mutter und Kind nicht erhalten und verbessert werden.

Eine der größten Schwierigkeiten für die Umsetzung des Bun­desverfassungsgerichtsurteils liegt wohl in der Tatsache, daß die Vertreterinnen und Vertreter der Beratungsprofession keineswegs einen Konsens über wesentliche Eckpunkte von Beratung haben. So haben die ersten Reaktionen auf das Urteil (Anm. 2) sich in dieser Hinsicht an der alten Frage entzündet, ob es mit dem We­sen von Beratung überhaupt zu vereinbaren sei, ihr ein Ziel vor­zugeben - ob also Ergebnisoffenheit in dem oben beschriebenen Sinn und Zielorientierung (D. IV. 1.) nicht Widersprüche sind. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß die in den alten Bundes­ländern vorgeschriebene 218-b-Beratung immer schon die Ziel­vorgabe des Lebensschutzes gehabt hat. Ohne die in der Verfassung verankerte Schutzpflicht des Staates gegenüber dem ungeborenen Leben wäre der Staat überhaupt nicht legitimiert, eine schwangere Frau, die um den Abbruch der Schwangerschaft nachsuchen will, zur Inanspruchnahme einer Beratung zu ver­pflichten. Ginge es beim Schwangerschaftskonflikt darum, sich zwischen zwei gleichberechtigten, gleichwertigen Alternativen zu entscheiden, so wäre es äußerst abwegig, von Staats wegen zu verlangen, daß eine erwachsene Frau sich bei dieser Gewissens­entscheidung prinzipiell einer Beratung unterziehen muß. Ge­rade um eine solche Art von Gewissensentscheidung geht es aber beim Schwangerschaftskonflikt nicht. Die Ausführungen, die der Senat in der Begründung des Bundesverfassungsgerichtsur­teils unter E. II. 2.d) macht, gehören deshalb in meinen Augen zu den wichtigsten Passagen der gesamten Urteilsbegründung.
Ginge es in der Schwangerschaftskonfliktberatung um die Be­gleitung einer Frau, die in einer Entscheidungssituation zwi­schen zwei Alternativen steht, die im Prinzip beide als gleichermaßen gute Lösungen des Konflikts angesehen werden können, so wäre es in der Tat ein kardinaler Fehler, wenn die Be­raterin ihre Interventionen von vorneherein auf eine der beiden Alternativen hin ausrichten würde. Sinnvoll ist die Zielvorgabe nur auf dem Hintergrund einerseits der Prämisse des Lebensrech­tes des Ungeborenen und andererseits eines Menschenbildes, das davon ausgeht, daß Schwangere nicht "ohne Not" ihr Kind ab­treiben lassen, so daß der Staat herausgefordert ist, sich für die Bewältigung dieser Not- und Konfliktlage einzusetzen. Dies an erster Stelle veranlaßt ihn, Sorge dafür zu tragen, daß der schwangeren Frau mit beraterischen Mitteln - es geht um ein Beratungsziel, nicht um ein Manipulationsziel - bei dem Versuch der Überwindung ihrer Not- und Konfliktlage geholfen wird.
Meines Erachtens kann man geradezu umgekehrt die Frage stellen, ob das durch das vorliegende Bundesverfassungsgerichtsurteil noch einmal bekräftigte Ziel der Schwangerschaftskonfliktberatung nicht im Gegenteil konstitutives Moment von Beratung überhaupt ist. Will Beratung nicht immer lebensför­dernd sein, zum Verstehen einer Not- und Konfliktlage beitra­gen und die Kräfte des anderen wecken und unterstützen, die diesem eine Bewältigung seiner Realität ermöglichen? Können wir uns in unserer Gesellschaft wirklich - trotz allen Wissens über vorgeburtliches Leben - nicht darüber verständigen, was unter "lebensfördernd" und unter "Realitätsbewältigung" zu verstehen ist, wenn es um den Lebenszusammenhang von Mutter und Kind in der Schwangerschaft geht, um jene "Zweiheit in Einheit" (D. I. 2.), mit der die Bundesverfassungsrichterin und die Bundesverfassungsrichter das Spezifikum von Schwangerschaft zu beschreiben versuchen? So wichtig es aus ethischer und rechtlicher Sicht ist, zwischen dem Leben der Mutter und dem des Kindes zu unterscheiden, was ja auch unserem biologischen Wissen entspricht, so wichtig erscheint es mir für das Verständ­nis von Beratung einer schwangeren Frau zu sein, daß wir die schwangere Frau in dieser ihrer Realität - nämlich eine Frau zu sein, in der untrennbar mit ihr verbunden ein individuelles menschliches Leben wächst - ernst nehmen. Das Leben einer schwangeren Frau fördern heißt immer gleichzeitig auch die Möglichkeiten dieser Frau vergrößern, zu dem in ihr wachsen­den Leben ja sagen zu können. Abbruch der Schwangerschaft ist immer auch ein Eingriff in die Integrität der Frau selbst. Das be­deutet nun keineswegs, daß auch nur annähernd jeder Schwan­gerschaftskonflikt aufgelöst werden könnte. Manchmal bleibt nur noch der Wunsch, die schwangere Frau möge wenigstens einem Menschen begegnen, der mit ihr trauert. Ich meine aber wohl, je freier von Ideologisierungen Beraterinnen sich einlassen auf den Lebenszusammenhang einer Schwangerschaft, je sensi­bler sie werden für die Loyalitäten, die eine schwangere Frau zu wahren bemüht ist, um so eher werden sie sich in der Frage des beraterischen Umgangs mit der Zielorientierung der Schwanger­schaftskonfliktberatung einander annähern. Ich bin überzeugt, daß eine weitere Qualifizierung der Beraterinnen, eine fort­schreitende Integration humanwissenschaftlicher Erkenntnisse in die Beratung Auswirkungen in Richtung eines besseren Le­bensschutzes haben wird. So sehe ich in dieser Qualifizierung eine vorrangige Aufgabe bei der Umsetzung des Verfassungsauf­trages, das menschliche Leben zu schützen.

Aufgrund der Zielorientierung der Pflichtberatung halte ich die inzwischen geäußerte Vorstellung, der schwangeren Frau könne in der Beratungsstelle konkrete Hilfestellung bei der Be­antragung von Sozialhilfe zur Finanzierung eines Schwanger­schaftsabbruchs gegeben werden oder es sollte u.U. gar "die Antragsstellung von den Beratungsstellen
übernommen werden" (Anm. 3), für abwegig. Meines Erachtens ist sie mit den Ausführun­gen, die das Bundesverfassungsgericht zur Aufgabenstellung der Beratung macht (D. IV. 1.), schlechterdings unvereinbar. Die Be­ratung soll der schwangeren Frau bei dem Versuch der Überwin­dung ihrer Not- und Konfliktlage helfen. Ein möglicher Abbruch der Schwangerschaft darf überhaupt erst nach einer Überlegungsfrist getätigt werden (D. IV. 2.b)). Das heißt, durch die Beratung soll die Frau motiviert werden, noch einmal die ei­genen Ressourcen und die ihres Umfeldes ins Spiel zu bringen und sich vielleicht doch noch für eine Fortsetzung der Schwan­gerschaft zu entscheiden. Im Sinne dieses Auftrages wäre es gera­dezu kontraproduktiv, wenn die Beraterin am Ende des Beratungsgespräches z. B. mit der schwangeren Frau zusammen den Antrag auf Sozialhilfe für die Finanzierung eines Schwanger­schaftsabbruchs ausfüllen würde, so als wäre die Entscheidung zum Abbruch ein Vorgang, der seinen Ort in der Beratungsstelle selbst haben könnte.

Das schließt allerdings nicht aus, daß die Beraterin den Ein­druck gewinnen kann, daß die schwangere Frau so sehr von der Frage beherrscht ist, wie sie einen Abbruch überhaupt finanzie­ren könnte, daß es angezeigt erscheint, über die rechtlichen Möglichkeiten, die der Staat zur Finanzierung eines Schwanger­schaftsabbruchs einräumt, zu sprechen, damit Raum für die ei­gentlichen Themen der Beratung geschaffen wird. Das Verbot, einen Schwangerschaftsabbruch, dessen Rechtmäßigkeit nicht festgestellt wurde, über die gesetzliche Krankenversicherung zu finanzieren (16. Leitsatz und E. V. 2.b) aa)), birgt ohnehin die Ge­fahr in sich, daß die Frage der Finanzierung in den Gedanken und Gesprächen der schwangeren Frau einen vorrangigen Platz gewinnt und Kräfte bindet, die dem Versuch der Entwicklung von Perspektiven für ein Leben mit dem Kind verlorengehen. In der öffentlichen Diskussion hat das Thema jedenfalls ein Über­gewicht bekommen. Das mag einerseits darauf zurückzuführen sein, daß dieses Thema sich als Schauplatz für einen ideologi­schen Kampf eignet, der in jedem Fall geführt worden wäre. Man sollte aber auch nicht unterschätzen, daß da im Makrobereich eine Konzentration auf dieses Thema deutlich wird, die sich im Mikrobereich, der Partnerschaft und Familie, ebenfalls abspielen kann. Für viele Frauen im Schwangerschaftskonflikt ist die Vor­stellung, plötzlich einige hundert Mark zur Verfügung haben zu müssen, über deren Verwendung sie zudem schweigen können möchten, ein ernstes Problem, das in der Zeit der allgemeinen Verunsicherung, die eine ungewollte Schwangerschaft mit sich bringt, in den Vordergrund treten kann. Um so wichtiger ist es, daß der Gesetzgeber einen unbürokratischen, mittellose Frauen nicht zusätzlich belastenden Weg für die Finanzierungsfrage wählt, daß er also möglichst viel Raum läßt für die innere Aus­einandersetzung mit der eigentlichen, existentiellen Frage um Leben und Tod des Ungeborenen. Er muß es m.E. aber auch schon deshalb tun, weil sonst dieses Problem zu einem Hinder­nis für die Rezeption der ethischen Optionen werden kann, die das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil aufrechterhal­ten und verlebendigen möchte. Nach dem Willen des Bundes­verfassungsgerichts soll ja die Regelung der Krankenkassenfinan­zierung dazu beitragen, daß "das Bewußtsein von dem Recht des Ungeborenen auf Leben wach erhalten wird" (E. V. 2.b) dd)).

Damit das Verfassungsgerichtsurteil die intendierte leben­schützende Wirkung zeitigen kann, bedarf es insgesamt und ge­rade auch im Blick auf die Pflichtberatung noch einer großen Vermittlungsarbeit. Auf ein so empfindliches Mittel des Lebens­schutzes, wie eine persönliche Beratung es ist, wird der Staat im­mer nur begrenzt Einfluß nehmen können und dürfen. So ist wieder neu das Gespräch zwischen denjenigen notwendig gewor­den, die die Schwangerschaftskonfliktberatung in unserem Land durchführen und verantworten. Meine Ausführungen möchten als Versuch verstanden werden, dazu einen Beitrag zu leisten.

Zum Schluß möchte ich noch auf den Problemzusammen­hang hinweisen, der mich seit der Verkündigung des Bundesverfassungsgerichtsurteils am meisten beschäftigt hat. Die folgen­den Überlegungen sprengen zwar den Rahmen der Thematik dieses Artikels, haben aber gleichwohl Konsequenzen für die Be­ratungsarbeit. Es geht um die Frage, wie wir es gesellschaftlich schaffen können, daß das Urteil nicht in der Hinsicht mißver­standen wird, als schütze es behindertes Leben nicht in der glei­chen Weise wie nichtbehindertes Leben. Tatsache ist, daß das Bundesverfassungsgericht keinen Unterschied macht in der Schutzwürdigkeit des behinderten und des nichtbehinderten un­geborenen menschlichen Lebens. Es hat im Gegenteil mit aller Klarheit festgestellt: "Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu ... Diese Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst wil­len" (D. I. 1.a)). Es gibt keinen Zweifel darüber, daß diese Worte sich auf alles ungeborene menschliche Leben beziehen, unab­hängig davon, ob es behindert oder nichtbehindert ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit dem Beratungskonzept, das der Gesetzgeber wählen kann, ja das zu wählen ihm nach dem Duktus der Ausführungen des Bundes­verfassungsgerichts meines Erachtens nahegelegt wird, zwischen gerechtfer­tigten Schwangerschaftsabbrüchen und solchen, denen die Rechtfertigung nicht zugesprochen werden kann, unterschie­den. Als gerechtfertigt wird der Schwangerschaftsabbruch u. a. bei Vorliegen einer "embryopathischen" Indikation angesehen, wohingegen dem Schwangerschaftsabbruch, zu dem es aufgrund einer allgemeinen Notlage kommt, keine Rechtfertigung zuge­sprochen werden darf, solange man um der größeren Wirksam­keit der Beratung willen auf eine Feststellung dieser Notlage durch dazu befugte Dritte verzichtet. Ich halte es für außeror­dentlich wichtig, daß in der Öffentlichkeit deutlich gemacht wird, daß der Staat in den letztgenannten Fällen - und dies sind ja zahlenmäßig die weitaus überwiegenden -, in denen er im Rahmen des Beratungskonzepts die förmliche Rechtfertigung nicht zuspricht, keineswegs gleichzeitig behauptet, es könne sich dabei im Einzelfall nicht um eine "Ausnahmelage" handeln, "die es von Verfassungs wegen zuläßt, die Pflicht zum Austragen des Kindes aufzuheben" (D. I. 2.c) bb)). Der schwangeren Frau soll ja gerade - was evtl. erst durch die Beratung geschieht - "bewußt sein, daß nur in Ausnahmesituationen nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch in Betracht gezogen werden darf, nämlich nur, wenn der Frau eine Belastung er­wächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, daß sie die zu­mutbare Opfergrenze übersteigt" (D. IV. 1.a)) und auch der Arzt hat bei der Entscheidung, ob er den Abbruch durchführt, "zu be­rücksichtigen, unter welchen Voraussetzungen die Rechtsord­nung einen Schwangerschaftsabbruch als nicht rechtswidrig ansieht" (D. V. 1 c)). Zu welcher sittlichen Verpflichtung sich die einzelne Frau auch angesichts einer solchen Rechtsordnung her­ausgefordert sieht, bleibt davon unberührt (vgl. auch D. I. 2.c) bb)). Der Staat jedenfalls, der im Beratungskonzept die Letztver­antwortung (D. II. 5.) der Frau überläßt, "sagt nicht, ihre Ent­scheidung zum Abbruch im Einzelfall sei rechtmäßig oder rechtswidrig ... Es bleibt im Einzelfall unsicher, ob die Schwan­gere Unrecht getan hat oder nicht" (Anm. 4). "Die Beratungsregelung mutet es ... Frauen zu, auf die persönliche Entlastung zu ver­zichten, die in einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des von ihnen beabsichtigten Abbruchs liegen kann" (D. III. l.c)). Der Unterschied zwischen den verschiedenen Notlagen hat mit "den unterschiedlichen Problemen" zu tun, "die die Feststellung der Rechtmäßigkeit hier und dort aufwirft" (Anm. 5). Denn "nur wenn die Beratungsregelung generell und ausnahmslos von der Feststellung des Vorliegens einer sozialen Notlage absieht, kann sie erreichen, daß Frauen die Beratung annehmen und sich ihr nicht im Blick auf eine erstrebte Beurteilung ihrer Entscheidung als rechtmäßig ... verschließen" (D. III. l.c); vgl. auch D. II. 5.a)), wohingegen angesichts einer embryopathischen Indikation "Frauen kaum Anlaß haben, ... die Beratung nicht mit der not­wendigen Offenheit anzunehmen" (D. II. 5.b)).

Obwohl es plausibel ist, in bezug auf die Beratungssituation einen Unterschied vorauszusetzen, bin ich der Meinung, daß in den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts nicht deut­lich genug wird, daß die Notlage auch bei einer embryopathi­schen Indikation nicht auf das schlichte Faktum der Behinde­rung selbst zurückzuführen ist, sondern, wie bei der allgemeinen Notlage, auf soziale und psychische Faktoren, auf einen Kon­flikt, den die Frau "als höchstpersönlichen erlebt" (D. II. 2.). Oder muß man angesichts des heutigen, oft ganz von der Eigendynamik des medizinischen Systems bestimmten Umgangs mit einer zu erwartenden Behinderung des Kindes schon sagen: ein Konflikt, den die Frau und ihr Partner als höchstpersönlichen er­leben sollten? Gewiß muß man die Entscheidung einer schwan­geren Frau oder eines Paares, die Verantwortung für ein behindertes Kind nicht übernehmen zu können, respektieren. Eine Qualifizierung der sozialen Beratung für schwangere Frauen und deren Partner, die von der "erheblichen Gefahr einer schwe­ren Schädigung des Kindes" (D. II. 5.b)) Kenntnis bekommen ha­ben, sich durch die auf sie zukommende Aufgabe überfordert sehen und deshalb einen Schwangerschaftsabbruch erwägen, ist m. E. aber eine der wichtigen Konsequenzen, die aus der prinzi­piellen Schutzpflicht des Staates zu ziehen sind: "Soweit die Un­zumutbarkeit die Pflicht der Frau, das Kind auszutragen, begrenzt, ist damit die Schutzpflicht des Staates, die gegenüber jedem ungeborenen menschlichen Leben besteht, nicht aufgeho­ben" (D. I. 2.c) cc)). (Die Hervorhebung des Wortes "jedem" stammt wohlgemerkt vom Bundesverfassungsgericht selbst.) Der Senat weist an einer Stelle ja auch auf die Notwendigkeit der Zu­sammenarbeit mit Behindertenverbänden hin (D. IV. 3.b)). Daß eine soziale Beratung, die die Möglichkeiten und Grenzen der persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Ressourcen the­matisiert, im allgemeinen die Kompetenzen eines Arztes über­schreitet, dürfte jedem einleuchten. Es wäre im übrigen auch äußerst hilfreich, wenn mehr schwangere Frauen und deren Part­ner schon dann - natürlich auf freiwilliger Basis - eine psychosoziale Beratung in Anspruch nehmen würden, wenn ihnen eine vorgeburtliche Untersuchung ihres Kindes von ärztlicher Seite nahegelegt wird und sie sich Klarheit darüber verschaffen soll­ten, was die Entscheidung zu einer solchen Untersuchung für sie persönlich bedeuten würde.
Ich kann nicht beurteilen, ob die Rechtslage, die das vorlie­gende Bundesverfassungsgerichtsurteil gebracht hat, noch inner­halb des Beratungskonzepts die Möglichkeit offenläßt, auf die Unterscheidung zwischen allgemeiner Notlage und einer auf embryopathischer Indikation beruhenden Notlage zu verzich­ten. Angesichts der aktuellen Gesetzeslage halte ich es aber je­denfalls für unerläßlich, die Bevölkerung präzise darüber aufzuklären, wie das Bundesverfassungsgericht zu seiner Unter­scheidung zwischen dem gerechtfertigten Schwangerschaftsabbruch bei Vorliegen einer Indikation und dem Schwanger­schaftsabbruch kommt, dem die Rechtfertigung nicht zugespro­chen werden kann - und was das Bundesverfassungsgericht nicht damit meint. Dies sollten auch diejenigen differenziert deutlich machen, die selber ein "strengeres" Urteil des Bundes­verfassungsgerichts vorgezogen hätten. Eine solche differen­zierte Aufklärung verlangt nicht nur die Redlichkeit gegenüber Frauen im Schwangerschaftskonflikt, sondern sie erscheint mir auch der einzige Weg, dem Mißverständnis vorzubeugen, daß nach unserer Rechtsordnung die Tötung eines behinderten unge­borenen Lebens prinzipiell anders eingeordnet würde als die Tö­tung nichtbehinderten ungeborenen Lebens. Hätte das Bundes­verfassungsgericht dies getan, so hätte es versäumt, die m.E. wichtigste ethische Botschaft weiterzutragen, die es im Zusam­menhang mit dem Schutz des ungeborenen Lebens zu vermit­teln gilt. Denn an der Frage, wie moderne Gesellschaften mit behindertem ungeborenen Leben umgehen, entscheidet sich nicht nur der Grad ihrer Humanität im Umgang mit geborenen Behinderten und ihren Familien. Es geht, so meine ich, um die Zukunftsfrage, ob wir angesichts der dramatisch fortschreiten­den technischen Möglichkeiten einer "Optimierung" der menschlichen Art dazu beitragen oder versäumen werden, Men­schen sein zu wollen, die zu Solidarität und Liebe fähig sind.

Anmerkungen

1  Da in der Schwangerschaftskonfliktberatung überwiegend Frauen tätig sind, wähle ich hier wie im folgenden nur die weibliche Form;  Berater sind selbstver­ständlich mitgemeint.
2  Vgl. etwa die kritischen Worte von Joachim v. Baross zur "Tendenzberatung" in seinem Artikel "Ein zu hoher Preis für den ,Konzeptwechsel'", in: Kritische Viertel­jahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Das Urteil zu § 218 StGB - in Wortlaut und Kommentar -, 76. Jg., Sonderheft 1/1993, S. 119.
3  Zusatzinformation des Bundesministeriums für Gesundheit, S. 3, in: Pressemit­teilung des Bundesministeriums für Frauen und Jugend. Information für Frauen in einem Schwangerschaftskonflikt. Grundlage: Übergangsregelung zum § 218 StGB nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993.
4  Ossenbühl, Fritz, Lebensschutz nach dem Maß des Möglichen, in: Kritische Vier­teljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, a.a.O., S. 179.
5  Schlink, Bernhard/Bernsmann, Klaus, Was tun? Zur Fortsetzung der Reform nach der zweiten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwanger­schaftsabbruch, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswis­senschaft, a.a.O., S. 182.


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